wohnungspolitische Betrachtung / M.Nelken
Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausübung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten vom 09.11.2021 [BVerwG 4 C 1.20] hat breite Reaktionen ausgelöst, weil das Gericht nicht nur im konkreten Fall die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg im Milieuschutzgebiet Chamissoplatz zu Gunsten der WBM im Jahre 2017 als rechtswidrig erkannte, sondern mit der Urteilsbegründung eine Ausübung des Vorkaufsrechts in sozialen Erhaltungsgebieten zur Sicherung der sozialen Ziele der Erhaltungssatzung sehr weitgehend einschränkt. Denn der Leitsatz lautet: „Der Ausübungsausschlussgrund des § 26 Nr. 4 BauGB greift auch bei Vorkaufsfällen im Gebiet einer Erhaltungssatzung (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 172 BauGB), wenn das Grundstück entsprechend deren Zielen und Zwecken bebaut ist und genutzt wird. Dabei kommt es maßgeblich auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts an, während mögliche zukünftige Entwicklungen nicht von Bedeutung sind.“
Im § 26 (Ausschluss des Vorkaufsrechts) des BauGB werden Ausschlussgründe aufgeführt, wann die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechtes ausgeschlossen ist. Unter Nummer 4. heißt es: (Die Ausübung des Vorkaufsrechts ist ausgeschlossen, wenn) „4. das Grundstück entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans oder den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme bebaut ist und genutzt wird und eine auf ihm errichtete bauliche Anlage keine Missstände oder Mängel im Sinne des § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1 aufweist.“
Der 4. Senat des BVerwG legt diesen Ausschlussgrund wörtlich aus und sagt, dass es auf den Zeitpunkt der Ausübung des Vorkaufsrechtes ankomme. Wenn zu diesem Zeitpunkt das Grundstück entsprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme – hier der Erhaltungssatzung – bebaut ist und genutzt wird, dann ist die Ausübung des Vorkaufsrechtes durch die Gemeinde ausgeschlossen. Die Ausübung des Vorkaufsrechtes könne nicht auf eine Prognose über eine zukünftig möglicherweise den Zielen und Zwecken zuwiderlaufende Bebauung oder Nutzung abstellen. Auch die Ablehnung einer Abwendungsvereinbarung, deren Inhalt auf eine zukünftige Nutzung (bzw. deren Unterlassung) abstelle, sei somit keine Grundlage für die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechtes.
Damit widerspricht das Bundesverwaltungsgericht nicht nur den Entscheidungen der Vorinstanzen VG Berlin und OVG Berlin-Brandenburg, sondern erklärt auch die bundesweit seit Jahrzehnten geübte Praxis der Ausübung des Vorkaufsrechtes in Milieuschutzgebieten weitgehend für unvereinbar mit der Rechtslage nach BauGB § 26 Nr. 4 in seiner aus dem Jahre 1986 stammenden heutigen Fassung. Diese Entscheidung gegen eine überwiegende Rechtsauffassung und gegen die landesweit geübte Praxis löste zwar bei Juristen, Behörden oder auch Laien Unverständnis aus, aber das ist jetzt die maßgebliche Auslegung des BauGB. Das Bundesverwaltungsgericht hat einer anderen Auslegung, wie diese etwa das OVG BB in seinem Berufungsurteil vorgenommen hat, dezidiert widersprochen. Für die vom beklagten Land Berlin und vom OVG BB vorgenommene Interpretation der Regelungen des § 26 Nr.4 sehen die Richter des Bundesverwaltungsgerichts keinerlei Spielraum. Der Gesetzestext sei eindeutig, und aus der Geschichte der Neufassung des § 26 im Jahre 1986 ließe sich eine andere Interpretation auch nicht herleiten. Im Gegenteil, es sei die Absicht des Gesetzgebers gewesen, die Ausschlussgründe für die Ausübung des Vorkaufsrechtes über die verschiedenen Anwendungsgebiete zu harmonisieren und die sozialen Erhaltungsgebiete darin einzubeziehen. Diese Änderung war kein ungewollter Nebenschaden, der aus einer Unachtsamkeit des Gesetzgebers resultiere.
Änderung des BauGB
Die Entscheidung der Richter des BVerwG ist höchstrichterliche Rechtsprechung und damit die maßgebliche Gesetzesauslegung. Wenn das nicht dem politischen Willen des Gesetzgebers (Bundestag) entspricht, dann muss der Bundesgesetzgeber eine diesbezügliche Klarstellung im BauGB vornehmen.
Das Land Berlin hat am 23.11.2021 einen entsprechenden Gesetzesantrag zur Änderung des § 26 Nr.4 BauGB im Bundesrat eingebracht. Dass dies 14 Tage nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (noch vor der Veröffentlichung der Urteilsbegründung) möglich war, erklärt sich daraus, dass das Land Berlin bereits im Dezember 2020 einen wortgleichen Antrag im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Baugesetzbuches im Rahmen des sogenannten Baulandmobilisierungsgesetzes eingebracht hatte. Dieser Antrag Berlins fand zwar noch in der Empfehlung des Fachausschusses vom 07.12.2020 Berücksichtigung, aber danach keinen Eingang in die Stellungnahme des Bundesrates zur Gesetzesvorlage der Bundesregierung.
Bemerkenswert ist, dass das Land Berlin in der Begründung seines Antrages zur Änderung des § 26 Nr.4 genauso argumentiert wie ein Jahr später die Richter des BVerwG. „Bei rein wörtlicher Auslegung der Vorschrift dürfte das Vorkaufsrecht in den Erhaltungsgebieten nicht ausgeübt werden, da das Grundstück im Sinne von § 26 Nr. 4 BauGB in aller Regel entsprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme (also der Erhaltungssatzung) bebaut ist und genutzt wird.“ (BR Drs. 686/1/20, S. 15)
Allerdings sagt Berlin in der Begründung weiter: „Diesen Ausschluss des Vorkaufsrechts hat der Gesetzgeber nicht beabsichtigt, wie sich nicht nur aus Sinn und Zweck des § 26 im Verhältnis zu §§ 24 fortfolgende BauGB, sondern auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift eindeutig belegen lässt.“ (ebenda)
Das sehen die Bundesrichter in ihrer Urteilsbegründung vollkommen anders. „Für ein abweichendes Wortverständnis gibt auch die Entstehungsgeschichte nichts her. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 10/4630 S. 83 <zu § 26>) ist § 26 Nr. 4 BauGB den Regelungen in § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 Halbs. 1 BBauG nachgebildet. In § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BBauG fehlt indessen jeglicher Anhaltspunkt für eine zukunftsbezogene Verwendung des Präsens.“ (Begründung RN 21 S,19). Unter den anschließenden RN 22 bis 27 auf den Seiten 10 bis 13 legt das Gericht ausführlich dar, warum es für eine abweichende Auslegung des Gesetzestext keinerlei Rechtsgrundlage sieht.
Offensichtlich hatte das Land Berlin bereits den fatalen Ausgang des seit 2018 anhängigen Verfahrens vorausgeahnt und deshalb im Jahre 2020 diese Initiative zur Änderung des §26 Nr.4 BauGB unternommen. Die Kollegen aus den anderen Bundesländern waren anscheinend von dieser Dringlichkeit nicht so überzeugt. Bleibt zu hoffen, dass Berlin nun ein Jahr später und nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.11.21 mehr Unterstützung bei den anderen Bundesländern erfährt. Allerdings könnte die neue Ampelbundesregierung mit der SPD-Bauministerin Geywitz sich ja gleich einmal bewähren und den Weg abkürzen, indem sie unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Änderung des § 26 Nr. 4 in den Bundestag einbringt.
Folgen
Abgesehen davon, dass das Bundesgesetz schnellstens geändert werden muss, stellen sich natürlich weitere Fragen hinsichtlich der akuten Folgen aus der BVerwG-Entscheidung.
- Im konkreten Fall ist der Bezirk verurteilt, ein Negativzeugnis für den ursprünglichen Kaufvertrag zu erteilen. Damit wird dieser nunmehr vollzogen und die WBM ist raus. Wie diese Abwicklung sich vollzieht; ob die WBM ohne Verlust rauskommt; ob der Käufer das Land Berlin noch auf Schadenersatz verklagen wird und noch so manch andere sind durchaus spannende Frage, aber weniger für die Mieter.
- Bitter für die Mieter ist, dass es voraussichtlich vorläufig keine neuen Vorkäufe und damit auch keine Abwendungsvereinbarungen in Milieuschutzgebieten geben wird. Zumindest können diese nicht auf zukünftig zu erwartendes Verhalten, das den Zielen der Milieuschutzverordnung widersprechen könnte, abgestellt werden. Laufende Prüfverfahren und anhängige Widerspruchs- und Gerichtsverfahren werden vom Land Berlin vermutlich beendet, sofern nicht andere Gründe ein Obsiegen in diesen Verfahren in Aussicht stellen.
Eine panikartige Flucht des Landes vor diesen juristischen Auseinandersetzungen scheint nicht geboten. Die Risiken und Chancen sollten in jedem einzelnen Fall vernünftig abgewogen werden. - Aufmerksamkeit sollte vor allem den in den letzten Jahren vollzogenen Vorkäufen und den abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen gelten. Eine Rückabwicklung vollzogener Vorkäufe dürfte bei bestandskräftigen Bescheiden in der Regel ausgeschlossen sein. Ein Verwaltungsakt wird nicht allein deshalb nichtig, weil er nach heutigen Erkenntnissen nicht rechtskonform war. Die große Mehrheit der Käufer wird sich nach dem Scheitern „ihres Kaufs“ wirtschaftlich anderweitig engagiert haben und jetzt nicht neue juristische Auseinandersetzungen in einer Jahre zurückliegenden Angelegenheit anfangen wollen. Aber es gibt immer den einen oder anderen verhinderten Eigentümer, für den eine solche Auseinandersetzung eine Grundsatz- und Überzeugungsangelegenheit sein könnte, die er sich auch etwas kosten lässt.
Im Falle der Abwendungsvereinbarungen dürfte die Situation wesentlich fragiler sein. Zwar sind Abwendungsvereinbarungen nicht grundsätzlich nichtig. Sie sind ja auch heute zulässig, um die Ausübung des Vorkaufsrechts abzuwenden. Nur die Substanz dessen, was zur Abwendung eines Vorkaufs vereinbar wäre, ist stark geschrumpft. Wie reagiert der Vertragspartner Berlin bzw. das jeweilige Bezirksamt, wenn der Käufer sich an einzelne Bestimmungen der Abwendungsvereinbarung mit Verweis auf das Bundesverwaltungsgerichtsurteil nicht mehr gebunden sieht, weil diese oder jene „Zukunfts-Verpflichtung“ im Lichte der Rechtsprechung ihm gar nicht hätte abverlangt werden dürfen? Damit wäre es Sache des Bezirksamtes, diesen Verstoß auf der nunmehr schwankenden Rechtsgrundlage zu sanktionieren. Nach den bisherigen Erfahrungen sind die Bezirksämter – auf sich gestellt – damit überfordert.
Es scheint mir nicht hilfreich, an dieser Stelle rechtliche Erörterung über die Standfestigkeit der Abwendungsvereinbarungen anzustellen. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die Mieterinitiativen des Problems bewusst sind und zum einem die Mieter der betroffenen Häuser aktiv und solidarisch unterstützen und zum anderen die Politiker in den Bezirken und auf der Landesebene unter Druck setzen, alles zum Bestand der Abwendungsvereinbarungen zu unternehmen und nicht in Erstarrung auf die Neufassung des § 26 Bundesbaugesetzbuches zu warten.
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